VERLEIHUNG 2015

Gerd Haffmans, Büchermacher
über Jonathan Swift

Eva Menasse

Liebe Freundinnen und Freunde der komischen Literatur - Ich bin hier nur das Vorprogramm und soll und will mich ganz kurz fassen.

»Die Menschen sind noch widerwärtiger als sie sind.« In dieser unlogischen doch sofort einleuchtenden Aussage haben Sie den ganzen Swift , den Humoristen, den Komiker und den Satiriker. Das mit dem Satiriker mag ja noch angehen. »Die Satire ist ein Spiegel, worin der Betrachter jedes Gesicht erkennt, außer dem eigenen. Deswegen ist sie so beliebt.« Die Encyclopaedia Britannica führt Swift als herausragendsten Satiriker der Englischen Sprache (»the foremost prose satirist in the English language«). Aber sein Humor und seine Komik sind schon, wie man {hier} in der Schweiz so schön sagt, »sehr speziell«. Die Jury vergibt einen Preis für komische Literatur, der nach einem Mann benannt ist, der jeden seiner Geburtstage mit der Lesung des Fluches aus dem Buch Hiob beginnt: »Ausgelöscht sei der Tag an dem ich geboren bin. Warum hat die Morgenröte nicht verschlossen den Leib meiner Mutter? warum bin ich an den Brüsten gesäugt? Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Dann läge ich da und wäre still, und hätte Ruhe.«

Ja, warum? Das war alles von Anfang an dumm gelaufen. Swifts Vater, ein anglikanischer Geistlicher aus Yorkshire, stirbt im Alter von 22 Jahren, zwei Monate nach der Zeugung, sieben Monate vor der Geburt seines einzigen Sohnes Jonathan am 30. November 1667 in Dublin. Seine Amme entführt den Säugling nach Whithaven in England und bringt ihn erst nach vier Jahren zurück nach Dublin. Woraufhin die Mutter den Sohn sofort verlässt, um ihrerseits nach England zu fahren und nicht mehr zurückzukehren. Onkel Godwin Swift, der Bruder des Vaters, steckt den Sechsjährigen in die Grammar-School in Kilkenny, gerühmt als das Eton Irlands. Zwar preist er später ironisch seine herrliche Kindheit im Internat mit den Mitschülern George Berkeley (dem späteren Bischof und Philosophen zwischen Locke und Hume, der lehrte, »die Welt ist meine Vorstellung«) und dem Komödiendichter William Congreve (dem Oscar Wilde seiner Zeit, nur noch etwas zynischer, geschliffener und amoralischer). Aber er wird erbärmlich zugerichtet: Von 10 Stunden Latein-Grammatik täglich, aufgeplatzten Wunden, aufgeschürften Knien, gebrochener Nase. Er rollt durch das Schulsystem bis zum Baccalaureat — gnadenhalber vom Trinity College gewährt. Er wird Privatsekretär von Sir William Temple, einem entfernten Verwandten seiner Mutter, verdienten Diplomaten a. D., der seine Memoiren und Schriften für die Nachwelt herrichten lässt. Vom jungen Sekretär, Lektor, Sklaven Swift, der so gern wieder einen Vater hätte, der Sir Temple aber nicht sein will. Swift ist zwar von Familie, aber ohne Titel und Geld, er legt Wert darauf, der englischen Herrenrasse anzugehören und der richtigen Kirche: der anglikanischen, der englischen Staatskirche. Er gehört nicht zu den Papisten und schon gar nicht zu den Dissenters, den Puritanern, den Cromwell-Leuten. Sein Glaube gehört der Vernunft allein. Er ist überragend intelligent, wortmächtig, jung und unverschämt, gibt dauernd Widerworte, weiß alles besser und will einfach nicht begreifen, dass einer wie er sich ducken und schlucken muss, will er in dieser Welt hoch und weiterkommen. Bei Sir Temple steht ihm eine große Bibliothek zur Verfügung und er entdeckt, dass er selbst eine flotte Feder führt, die er für seine Freunde und seine Karriere einsetzt. Er schließt sich aus Neigung den Whigs an, den Liberalen und Anhängern des Parlaments; wechselt aber zu den Tories, den Königstreuen, er schenkt ihnen seine Worte, erwartet von ihnen Anerkennung, Amt und Stellung. Er würde gern hoch hinaus wachsen, im Staatsdienst, in der Diplomatie, auch ein Ministerposten käme in Frage. Aber es reicht nur zum Theologiestudium, wo er es immerhin zum Doctor of Divinity und zur Ordinierung als anglikanischer Geistlicher bringt. Nicht aber zum erhofften Bischofsitz. Ich erlöse Sie vom Bericht über seine weiteren biographischen Irrfahrten, seine dürftigen Pfarrstellen, seine überirdischen Liebschaften – ein Kapitel für sich: drei Frauen säumen seinen Weg: Stella (Esther Johnson); Varina (Jane Waring); Vanessa (Hester Vanhomrigh) — schriftlich ist er stets liebevoll und verspielt, persönlich darf ihm keine zu nahe kommen. Erste Publikationen, bringen Ruhm, Wut und Ärger. Er kann gut schreiben, sieht sich aber nie als Schriftsteller; seine Pamphlete, Polemiken, Schmäh- und Kampfschriften stehen immer im Dienst eines politischen Glaubens, seiner Einsichten, seinem Gefühl für Gerechtigkeit. Und das wechselt bisweilen, doch alles wird mit Inbrunst und Überzeugung in die Welt geschickt. Er ist der Prototyp des engagierten Schriftstellers. 1713 wird er doch endlich was in dieser Welt. Leider nicht Bischof von Dublin oder Vizekönig von Irland, aber immerhin der Dean der Sankt Patricks Cathedral - der größten Kirchgemeinde in der Hauptstadt des Königreichs Irland. Er wird sein eigener Freiherr und kämpft für die Freiheit der englischen Kolonie Irland wie es kein Ire gekonnt hätte. Deswegen betrachten ihn die Iren bis heute als einen der ihren.

Im Hause Sir Temples hatte ihm der alte John Dryden prophezeit: »Vetter Swift, aus dir wird nie ein Dichter!« Nun findet er literarische Weggefährten, mit denen er sich ungeniert austauschen kann, gespächsweise und in langen Briefen. Darunter den Dichter Alexander Pope, der ihn zu einem anständigen Honorar für sein Werk verhilft; und John Gay, den Autor der Bettleroper, von dem Bert Brecht und Kurt Weill mit ihrer Dreigroschenoper nicht schlecht profitieren sollten.

Im Jahr 1719 erscheint der als Reisebericht getarnte Seefahrer-Roman »Robinson Crusoe« von Daniel Defoe und wird sofort und bleibt seitdem ein Welterfolg. 1726 erscheint der als Reisebericht getarnte Seefahrer-Roman »Reisen in verschiedene Länder der Welt, in vier Teilen. Von Lemuel Gulliver - erst Schiffsarzt, dann Kapitän mehrerer Schiffe.« Kurz: »Gullivers Reisen« von Jonathan Swift wird sofort und bleibt seitdem ein Welterfolg. Swift hat nie zugegeben, Defoe gelesen zu haben; merkwürdig nur, dass Gulliver auf seiner dritten Reise bei Kapitän Robinson anheuert. Und dann die Entdeckung:

»Gullivers Reisen« ist ein rein autobiographischer Roman.

Erstes Buch: Reise nach Liliput. Das Genie von Zwergen gequält. Swifts eigene Lebensgeschichte. Er rettet, schuftet und hilft, gewinnt ihre Kriege, löscht den Brand der halben Stadt und bewahrt den Palast der Kaiserin vor der Zerstörung, allerdings mit seinem eigenen gewaltigen Strahl, weswegen man ihm bloß die Augen ausstechen will, damit seine Arbeitskraft erhalten bleibt. Swift weiß, dass er als Fünf-Meter-Mann die meisten seiner Mitmenschen überragt. Die Kaiserin von Liliput ist niemand anderes als die kleinkararierte, sauertöpfische, prüde, bigotte Queen Ann, die letzte der Stuarts, die Swift einfach nicht leiden konnte, der ist ihr nicht geschmeidig salbadernd genug für ein Bischofsamt.

Zweites Buch: Reise nach Brobdingnag: Jetzt ist er der Wicht im Reich der Riesen. Er ist ihrer Rohheit ausgeliefert und erlebt den Ekel vor dem Organischen, den Wahnsinn der Biologie und seine Angst vor der Weiblichkeit so: »Die Ehrenjungfern zogen sich vor meinen Augen aus. Dieser Anblick war alles andere als verführerisch. Ihre Haut sah aus der Nähe grob, uneben und fleckig aus, Male traten in Erscheinung so groß wie Teller, aus denen bindenfadendicke Haare herauswuchsen. Von den restlichen Körperteilen will ich lieber schweigen auch machte es ihnen gar nichts aus, das, was sie getrunken hatten, vor meinen Augen hektoliterweise in fassähnliche Nachttöpfe zu entleeren. Die schönste von ihnen, ein munteres Ding von 16 Jahren setzte mich rittlings auf ihre eichenborkige Brustknospe und trieb noch so allerlei Späße mit mir, die ich nicht im einzelnen schildern möchte.« Diese beiden ersten Bücher sind so genial, dass sie sogar die Zurichtung als Kinderbuch ausgehalten haben. Danach wird’s wieder sehr speziell:

Drittes Buch: Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrip und Japan. Die Wissenschaften werden lächerlich gemacht. Was ein Satiriker ist, der muss geißeln. Und zwar Mißstände, und die findet er ja immer und reichlich. Siehe dazu Samuel Pepys Tagebuch-Eintrag an Swifts Geburtstag, am 30. November 1667, wo er Präses der Royal Society werden sollte. Er wird es und befördert die »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica« von Isaac Newton zum Druck. Newton erklärt dort das allgemeine Gravitationsgesetz: Alle Körper fallen gleich schnell (allerdings nur: ohne Luftwiderstand). Wie aber kommt man zu einem luftleeren Raum? Darüber hat sich bereits König Charles II. amüsiert mokiert: »Die wiegen da Luft«, mmmm. Pepys erlebt an Swifts Geburtstag auch die erste Blutransfusion; und entdeckt eine Wunder-Welt unterm Mikroskop. Nebenbei: Die Zeit der Restauration, findet sich so hautnah, scharf beobachtet und klatschgetränkt nur bei Samuel Pepys, der sowohl die Thronbesteigung Charles II. als auch die seines Nachfolgers und Bruders James II. genau miterlebt hat. Auch wie Nieuw Amsterdam 1664 in New York umbenannt wird nach dem Herzog von York, High Lord Admiral der Royal Navy, Bruder König Charles II. (1660 - 1685), und dessen Nachfolger als James II. (1685 - 1689); höchster Dienstherr Samuel Pepys’. London war bis 1776 die Hauptstadt Amerikas; die amerikanischen Angelegenheiten wurden dort von einem Büro des Innenministeriums geleitet. Die Tagebücher Pepys geben genau den Hintergrund des politisch-gesellschaftlich-öffentlichen Lebens, in der Swift sich bewegt.

Viertes Buch: Reise ins Land der Houynhms. Jetzt wird’s positiv. Die edlen Pferde leben vernünftig, kein Krieg, kein Mord, kein Raub, kein Diebstahl, keine Intrigen, keine Korruption, nur derbe gesunde Kost, keine Ausschweifung, keine Liebe, Lust und Leidenschaft, alle haben genug und sind sowas von vernünftig – die einzigen Kunstäußerungen, memoriert, nicht aufgeschrieben, gibt es nur nach ein wenig olympischem Wetthopsen und Fresseeinschlagen: Lobgesänge auf verdiente Sportler. Der höchste Festtag der edlen Rösser: die Siegerehrung. So öde wie Dantes Paradies nach der fabelhaften Hölle und dem hitzigen Fegefeuer. So langweilig wie Faust in Faust II mit mystischen Chören und Knaben ohne Mephisto.

In den englischen Romanen von Jane Austen über Charles Dickens, William Thackeray bis George Elliot gibt es kein Klo. Die Menschen haben alle keinen Unterleib, Verdauungs- wie Vereinigungsvorgänge finden nicht statt. Wie meine Großmutter immer sagte: »Darüber spricht man nicht.« Klare Ansagen wie »Ich muss mal« wurden sofort umformuliert: Das heißt: »Ich muss mir mal die Hände waschen.« Die einzigen Autoren, die sich richtig ausdrücken, die Ausscheidungen zulassen ohne gleich ständig in ihnen zu wühlen (was ihnen ebenso ständig unterstellt wird) sind Samuel Pepys und Jonathan Swift. Wobei Pepys nur in seinem Tagebuch so plastisch von seinen Koliken, Molesten, Genitalplagen aller Art berichten kann, weil er weiß, dass es in absehbarer Zeit keine öffentliche Leserschaft findet. »Gullivers Reisen«, wurde sofort ein Erfolg und ist seitdem bis auf den heutigen Tag immer lieferbar gewesen. Er lssßt in seiner drastischen Deutlichkeit keine Frage offen. Ein Roman der Aufklärung. Und doch ein nicht auszulesendes Himmel-Erde-und Hölle umspannendes Weltbuch.

»Ich will die Leute nicht unterhalten. Ich will sie ärgern.« hat er seinem lebenslangen Freund Alexander Pope geschrieben. Ob er wollte oder nicht: Ihm ist Beides gelungen. Was für ein menschenfreundlicher Misanthrop. Und jetzt spendet er auch noch Preis und Segen.